Sie alle kennen das Diktum Voltaires über die Meinung des anderen, die er verteidigen würde. Formuliert in Zeiten des Absolutismus, sollte es in heutigen demokratischen Tagen ein Wesenskern unserer politischen Kultur sein: Die Fähigkeit, Widerspruch auszuhalten – und ihn nicht nur zu dulden, sondern als Bereicherung zu verstehen.

Doch genau diese Fähigkeit scheint mehr und mehr abhandenzukommen. In einer Zeit, in der soziale Netzwerke lautstarke Echoräume geschaffen haben, in denen sich viele nur noch selbst bestätigen, gerät ein zentraler Wert der Demokratie ins Wanken: die Anerkennung der legitimen Andersartigkeit. Wer heute eine andere Meinung vertritt, riskiert nicht selten, zum:zur moralischen Außenseiter:in abgestempelt zu werden. Lieber versichert man sich gegenseitig der Zustimmung und singt den Chor der Systemtreuen. Einheitsmeinung ist keine Stärke, sondern Schwäche Ständige Einstimmigkeit – sei es in Gremien, in Organisationen oder im öffentlichen Diskurs – führt nicht zu Klarheit, sondern zu Eintönigkeit. Sie ist der Anfang der Stagnation. Wer alles abnickt, denkt nicht mehr nach. Wer immer zustimmt, hat längst aufgehört zu hinterfragen.

Demokratie aber lebt von der Reibung. Von kontroversen Debatten, die nicht verletzen, aber herausfordern. Von Argumenten, die nicht gefallen müssen, aber zum Nachdenken anregen. Und von Stimmen, die nicht mit dem Strom schwimmen, sondern neue Perspektiven eröffnen. Wir brauchen keine Dampfplauderer:innen, die mit Schlagworten punkten und gelegentliche Wortspenden in den Äther paffen, aber inhaltlich leer bleiben. Genauso wenig brauchen wir Opportunist:innen, die jede Diskussion im Keim ersticken wollen, weil sie Angst vor Veränderung haben. Was wir brauchen, sind Menschen mit Haltung – auch dann, wenn es unbequem wird.

Demokratie ist nicht bequem – sie ist notwendig

Demokratie verlangt Auseinandersetzung. Sie verlangt, dass wir uns einbringen, zuhören, abwägen, widersprechen, Kompromisse suchen. Sie ist kein bequemes System – sie ist ein anspruchsvolles. Aber gerade deshalb ist sie das Beste, was wir haben. Sie ist nicht dazu da, uns immer recht zu geben. Sie ist da, um uns daran zu erinnern, dass es auch andere Sichtweisen gibt – und dass die Wahrheit oft erst im Diskurs erkennbar wird.

Deshalb: Mehr Streitkultur wagen.

Denn wer immer nur im eigenen Meinungskreis verharrt, der:die verliert den Blick für die Wirklichkeit. Wer sich nur noch mit Gleichgesinnten austauscht, verwechselt Konsens mit Wahrheit. Und wer andere Meinungen als Bedrohung empfindet, hat die Grundlage des demokratischen Miteinanders nicht verstanden. Lasst uns also wieder mutiger sein – im Denken, im Sprechen, im Zuhören. Lasst uns aufhören, andere für ihre Ansichten zu verurteilen, nur weil sie nicht unsere sind. Lasst uns wieder kontroverse, leidenschaftliche, aber respektvolle Debatten führen – auf Augenhöhe und mit dem Ziel, gemeinsam besser zu werden. Denn wie sagte schon Herbert Wehner: “Wir sind nicht auf die Welt gekommen, damit wir es gemütlich haben.”